Markus Dederich

Anerkennung

Immer noch machen Menschen mit Behinderungen in ihrem Leben die Erfahrung, nicht beachtet und respektiert, sondern zurückgewiesen und an den Rand gedrängt zu werden. Diesen Erfahrungen wird seit mehreren Jahrzehnten der sozialethisch begründete Anspruch auf Anerkennung entgegengestellt. Im Kontext von Behinderung ist Anerkennung nach Ansicht vieler Autoren auch deshalb von Bedeutung, weil sie als „Modus von Integration“ (Kaletta 2008, 15) verstanden und zur Begründung umfassender Teilhabe herangezogen werden kann. Die bisher vorliegenden Versuche, Anerkennung für Menschen mit Behinderungen einzufordern, greifen durchgängig auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth zurück (vgl. Katzenbach 2004, Horster 2009), die jedoch auch Einwänden ausgesetzt ist (vgl. Dederich/Schnell 2011, Dederich 2013).

 

1. Zum Begriff der Anerkennung

Das Wort ‚Anerkennen‘ umfasst Bedeutungen wie etwas für wahr halten, Zustimmen, Eingestehen, Akzeptieren, Gelten lassen, Respektieren, Willkommenheißen, Lieben und anderes mehr. In theoretisch-konzeptio­neller Hinsicht wird Anerkennung entweder als Haltung von Personen, Gruppen oder Institutionen oder als Handlungsweise verstanden. In manchen Theorien wird Anerkennung aus Sicht des Individuums entwickelt, in anderen aus Sicht spezifischer Gruppen. Viele Ansätze deuten Anerkennung als menschliches Grundbedürfnis (vgl. Kaletta 2008, 30) und stellen eine enge Verbindung zu gelingender Identitätsbildung her (vgl. Werschkull 2007, 43).

In den verschiedenen Ansätzen besteht Einigkeit darüber, Anerkennung als Akt der Zustimmung und Wertschätzung sowie als wichtige Ressource für den Aufbau einer positiven Selbstbeziehung und hinsichtlich der sozialen, rechtlichen und politischen Inklusion von Individuen oder Gruppen in die Gesellschaft zu verstehen. Dies macht deutlich, warum Anerkennung für Menschen mit Behinderungen sowie andere marginalisierte und ausgegrenzte Individuen und Gruppen von Bedeutung ist: Als Gegenmittel zu Negativbewertungen und Ausgrenzung verspricht sie einerseits die Wiederherstellung oder Bewahrung von personaler Integrität, andererseits die Annäherung an eine gerechte Gesellschaft.

Jemanden anzuerkennen bedeutet, ihn wahrzunehmen, als jemand Bestimmtes zu identifizieren und einen positiven Wert zuzuschreiben.

„Während wir mit dem Erkennen einer Person deren (…) Identifikation als Individuum meinen, können wir mit ‚Anerkennung’ den expressiven Akt bezeichnen, durch den jener Erkenntnis die positive Bedeutung einer Befürwortung verliehen wird“ (Honneth 2003, 15).

 

Die befürwortende Zuschreibung einer positiven Bedeutung ist für das Wohlergehen der Menschen von großer Bedeutung. Dem liegt die Annahme zugrunde, der Mensch sei von seiner Sozialität her zu denken, d.h. als situiertes, in bestimmten Kontexten lebendes und auf diese Kontexte bezogenes Lebewesen. Eine Grundannahme der Anerkennungsethik lautet, dass sich nur diejenigen, die sich durch die Verhaltensweisen und die Kommunikation ihrer Mitmenschen als positiv zur Kenntnis genommen, respektiert und wertgeschätzt erfahren, auch in elementarer Form sozial anerkannt fühlen (vgl. Honneth 2003, 20). Folglich führt vorenthaltene Anerkennung zu Integritätsverletzungen, die den nicht anerkannten Menschen unterdrücken oder in „ein falsches, deformierendes Dasein einschließen” (Taylor 1993, 14). So verstanden sind Anerkennungsverhältnisse der Ermöglichungsrahmen für die Ausbildung einer integren Selbstbeziehung und ein gelingendes Leben (vgl. Honneth 1994, 2000). Diese wenigen Hinweise zeigen, dass sich die Ethik der Anerkennung offensichtlich sehr gut für eine sozialethische Begründung von umfänglicher Teilhabe und Inklusion anbieten.

 

2. Drei Sphären der Anerkennung

Honneth skizziert drei unterscheidbare Sphären der Anerkennung, deren Bedeutung er zunächst an verschiedenen Formen der Integritätsverletzung aufzeigt.

a) Leibliche Integrität. Diese kann durch Vernach­lässigung, Demütigung, Zufügung von Schmerz oder Gewalt verletzt werden.

b) Normatives Selbstverständnis. Diese betrifft die Person als Subjekt von Rechten, deren Verletzung zu Entrechtung und einem prekären sozialen Status führt und  zu einem Verlust an Selbst­achtung führen kann.

c) Soziale Wertschätzung. Diese kann durch Vorenthaltung von Selbstbestimmung und verweigerte Solidarität untergraben werden.

Im Kontrast zu diesen drei Negativformen unterscheidet Honneth drei Interaktionssphären, die den Er­möglichungsrahmen für die Herausbildung bzw. Wahrung personaler Integrität bilden.

a) Emotionale Zuwendung. Diese spielt in sozialen Nahbeziehungen eine zentrale Rolle. Emotionale Zuwendung zeigt sich u.a. in fürsorglicher Unterstützung und ist ein wesentlicher Faktor für die Herausbildung von Selbstvertrauen, Autonomie und einer als positiv erlebten Identität.

b) Rechtliche Anerkennung. Diese stellt die Anerkennung als Per­son und Rechtssubjekt sicher und bildet eine unerlässliche Grundlage für ein gerechtes politisches Gemeinwesen. Rechtliche Anerkennung ermöglicht Selbstachtung, die mit der Fähigkeit einhergeht, autonom und vernünftig handeln zu können.

c) Solidarische Zuwendung. Durch sie erfährt der einzelne Mensch Achtung und Wertschätzung für sein individuelles Sosein und seinen jeweiligen Beitrag zu einem Gemeinwesen und lernt, sich selbst wertzuschätzen.

 

3. Aspekte der Kritik

Honneths Anerkennungsethik ist im deutschsprachigen Raum eine der einflussreichsten sozialphilosophischen Theorien der Gegenwart, hat jedoch auch eine Reihe von Einwänden auf sich gezogen (vgl. ausführlich Dederich 2013). Hierzu gehören die von Fraser (2003) monierte Ausblendung ökonomischer Ungleichheiten sowie der Hinweis von Felder (2012), soziale Wertschätzung könne ebenso wenig wie Liebe erzwungen werden. Ein weiterer, nachfolgend kurz erläuterter Einwand bezieht sich auf die dritte Sphäre, die solidarische Zustimmung. Solidarische Zustimmung wird nämlich nicht jedem und bedingungslos gewährt, sondern ist (das lässt sich historisch zeigen) immer selektiv und an Kriterien gebunden. Solidarität wird in der Regel nur dann gewährt, wenn eine Person oder Gruppe bzw. deren Thema und Anliegen als gesellschaftlich relevant anerkannt eingeschätzt wird. Ein Beispiel: In einer Leistungsgesellschaft haben es diejenigen schwer, anerkannt zu werden,  die bestimmte Leistungen nicht erbringen können. Wo Bildung, Schönheit, Jugend, Kraft, Dynamik und Erfolg Kriterien für Wertschätzung sind, laufen Menschen, die Anzeichen von Bildungsferne, Erfolglosigkeit, Gebrechlichkeit, altersbedingten Abbau usw. zeigen Gefahr, dass ihnen die allgemeine Wertschätzung entzogen wird. Angehörige unterer sozialer Schichten, kulturelle oder ethnische Minderheiten, aber auch Menschen mit schweren Behinderungen und chronischen Erkrankungen dürften es unter diesen Bedingungen schwer haben, Anerkennung im Sinne solidarischer Zustimmung zu erfahren.

Schließlich soll hier ein Kritikpunkt genannt werden, der sich aus der starken Akzentuierung des Prinzips der Wechselseitigkeit der Anerkennung ergibt. Allerdings ist hiervon die erste Anerkennungssphäre (die emotionale Zuwendung) ausgenommen, für die die Wechselseitigkeit nicht zwingend ist. Wenn Anerkennung auf den beiden anderen Ebenen als reziprok gedacht wird, fallen viele Menschen, etwa Menschen mit schweren geistigen Beeinträchtigungen oder Menschen im Koma, aus den angestrebten Anerkennungs-verhältnissen heraus.

Daher ist es wichtig, dass die Ethik der Anerkennung nicht auf symmetrische, auf Gleichheit beruhende soziale Beziehungen reduziert werden darf. Sie müsste vielmehr so gefasst werden, dass sie auf eine klassifizierende und einordnende, also den anderen Menschen als „so und nicht anders“ identifizierende Festlegung des Anderen verzichtet. Anerkennung müsste die Anerkennung des „Nichtidentischen“ sein (Adorno 1997) und auf herrschaftlichen Zugriff, Aneignung, Anpassungsdruck und Unterwerfung verzichten. Dieser Zugang zur Anerkennung enthält ohne Frage ein Moment der Utopie. Er bringt das ethische Gebot zum Ausdruck, auf begriffliche Identifikation zu verzichten und damit auch auf alle Versuche, Menschen aufgrund von bestimmten Kriterien einen ethischen Wert zuzuschreiben und sie so in eine Hierarchie einzuordnen. Erst eine so verstandene Anerkennungsethik wäre in der Lage, alle Versuche zu unterlaufen, das Differente entweder abzustoßen oder zu vereinnahmen. Erst sie würde es ermöglichen, dass tatsächlich höchst unterschiedliche Menschen und Gruppen in einer Gesellschaft zusammenleben, ohne Differenzen auslöschen zu müssen.

Prozesse der Anerkennung müssen mit anderen Worten so offen angelegt sein, dass der andere Mensch als unvergleichbares, nicht in sozialen Normen und Erwartungen aufgehendes Wesen ‚freigegeben’ wird. Dieses Freigeben beinhaltet auch, ihn aus den Erwartungen der Wechselseitigkeit zu entlassen. Wenn es also darum geht, den anderen Menschen als Anderen anzuerkennen, dann erfordert dies ein sehr sensibles Bewusstsein dafür, dass jeder Versuch, mir diesen Anderen anzueignen, ihn auf ein von mir oder der Gesellschaft gemachtes Bild festzulegen, die Anerkennung sofort zerstört bzw. in Gewalt umkippen lässt (vgl. Gamm 2000, 214).

Trotz dieser Kritik muss aber festgehalten werden, dass die Anerkennungsethik ein in vielen Punkten wichtiges Modell liefert, anhand dessen sich die Dynamik sozialer Konflikte um ethische Inklusion und Exklusion beschreiben lässt. Sie hilft plausibel zu machen, mit welchen Ansprüchen bislang benachteiligte Gruppen an die ‚Mehrheitsgesellschaft’ herantreten und die Forderung nach Respekt und gerechteren Verhältnissen formulieren.

 

Literatur:

 

Adorno, Theodor W. (1997): Negative Dialektik. 9. Auflage, Frankfurt a.M.

Dederich, Markus/Schnell, Martin W. (Hrsg.) (2011): Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik. Bielefeld

Dederich, Markus (2013): Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik. Stuttgart

Felder, Franziska (2012): Inklusion und Gerechtigkeit. Das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe. Frankfurt a.M.

Fraser, Nancy (2003): Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung. In: Fraser, Nancy/Honneth, Axel: Umverteilung oder Anerkennung. Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a. M., S. 13-128

Gamm, Gerhard (2000): Nicht nichts. Studien zu einer Semantik der Unbestimmtheit. Frankfurt

Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozia­ler Konflikte. Frankfurt

Honneth, Axel (2000): Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Phi­losophie. Frankfurt

Honneth, Axel (2003): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Frankfurt

Horster, Detlef (2009): Anerkennung. In: Dederich, Markus/Jantzen, Wolfgang (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Stuttgart, S. 153-159.

Kaletta, Barbara (2008): Anerkennung oder Abwertung. Über die Verarbeitung sozialer Desintegration. Wiesbaden

Katzenbach, Dieter (2004): Anerkennung, Missachtung und geistige Behinderung. In: Ahrbeck, Bernd/Rauh, Bernhard (Hg.): Behinderung zwischen Autonomie und Angewiesensein. Stuttgart, S. 127-144

Taylor, Charles (1993): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frank­furt a.M.

Werschkull, Friederike (2007): Vorgreifende Anerkennung zur Subjektbildung in interaktiven Prozessen. Bielefeld

 

Kontakt:

Prof. Dr. Markus Dederich

Universität zu Köln

markus.dederich@uni-koeln.de

Mai 2013

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/anerkennung_dederich.php