André Frank Zimpel

Diagnostik

Der Begriff der Diagnose (διάγνωσις) bezeichnet im Allgemeinen ein differenzierendes Urteil. Die ursprüngliche, etymologische Bedeutung dieses Wortes leitet sich aus dem griechischen Wort „δια-γιγνοσκειν“ ab und meint so viel wie „etwas durch und durch zu erkennen“. Da aber jeder Mensch über ein Universum von Eigenschaften verfügt, wäre der Anspruch an eine Diagnose, eine Persönlichkeit vollständig zu durchschauen, eine maßlose Überforderung. Den Anspruch an eine Diagnose bestimmt der Anlass des Diagnostizierens. Ziel jeder pädagogischen Diagnose sollte die Steigerung der Achtung vor der Gesamtpersönlichkeit und eine aktive Auseinandersetzung mit ihren Entwicklungsmöglichkeiten sein. Denn spätestens seit Janusz Korczak (1994, 23-37) ist bekannt, dass die Achtung der Persönlichkeit eines Lernenden die unmittelbare und allgemeine Voraussetzung für gelungene Bildung und nachhaltige Erziehung ist. Korczak fordert das Recht des Kindes, so zu sein wie es ist, und ächtet mit dem Recht des Kindes auf den heutigen Tag den starren Blick in die Zukunft: „Um der Zukunft willen wird gering geachtet…“ (Ebd., 45).

Ein zentrales Werkzeug der psychologischen und pädagogischen Diagnostik ist der Normvergleich. Das lateinische Wort für Richtschnur und Maß „norma“ geht wahrscheinlich auf das griechische Wort „γνώμων“ (Gnomon) für Schiedsrichter, Kenner und Begutachter zurück. Die heute gebräuchlichste Form einer mathematischen Normierung in den Humanwissenschaften stammt aus der Sozialphysik des belgischen Astronomen und Statistikers Adolphe Quételet (1796 -1874): die gaußsche Normalverteilung. Carl Friedrich Gauß (1777-1855) beschrieb mit der Dichtefunktion der Normalverteilung die Streuung von Messfehlern. Bedingung ist, dass die Abweichungen der Messfehler einer gegebenen Größe sowohl nach oben wie auch nach unten vielfältig, gleichwahrscheinlich und zufällig sind. Quételet beobachtete, dass Körpermaße normalverteilt sind. Das brachte ihn auf die Idee, dass nicht nur Messfehler normalverteilt sind, sondern auch menschliche Eigenschaften. Seine statistischen Untersuchungen von menschlichen Eigenschaften legten nahe, dass die Maße vieler menschlicher Eigenschaften ebenfalls um einen Mittelwert streuen. Dazu zählte er neben biologischen Eigenschaften, wie zum Beispiel Körpermaße und Lebenserwartung, auch psychologische und soziale Eigenschaften, wie zum Beispiel die Neigung zur Schriftstellerei, zur Kriminalität usw. (Desrosiéres 2005, 84 - 88). Heute noch gebräuchlich ist zum Beispiel Quételets Körpermassenzahl (Body-Mass-Index). Das gesuchte Maß, um das Messfehler streuen, ersetzte er durch den Idealtyp eines mittleren Menschen (homme moyen). In Deutschland entspricht diesem Idealtyp die scheinbar gleichförmige große Gruppe der normalen oder mittleren Menschen, die oft als „Lieschen Müller“ und „Otto Normalverbraucher“ bezeichnet werden. Im Englischen spricht man von „Average Joe“ und „Average Jane“.

Bei einer Normalverteilung sind es die unzähligen Kombinationen der Zusammensetzung einer Eigenschaft, die eine hohe Wahrscheinlichkeit des Durchschnitts bedingen. Für die viel unwahrscheinlicheren Extremwerte ist dagegen die geringe Zahl möglicher Kombinationen verantwortlich. Das bedeutet: Die sogenannten normalen Eigenschaften sind in ihrer Zusammensetzung meist untereinander völlig verschieden. Die Zusammensetzungen zweier mittlerer Testwerte können untereinander verschiedener sein als sie es im Vergleich zu extremen Testwerten sind. Es gibt zum Beispiel auch viel mehr Kombinationsmöglichkeiten von Kopf-, Hals-, Oberkörper-, Unterkörpergrößen und Beinlängen für eine mittlere Größe als es Kombinationen gibt, aus denen sich extrem große oder kleine Körperlängen zusammensetzen (Zimpel 2008, 91-95). Das große Spektrum der Verschiedenheit mittlerer Werte untereinander zeigt, dass die Vorstellung von einem einheitlichen normalen Typus wie zum Beispiel “Lieschen Müller” oder “Otto Normalverbraucher” eine Täuschung ist.

Ein weiteres Problem einer normorientierten Diagnostik für die Pädagogik ist eine defizitorientierte Sichtweise. Pädagogische Interventionen erhalten dadurch einen korrigierenden Charakter. Eine sehr einflussreiche Alternative zur normorientierten Diagnostik geht auf den russischen Psychologen Lew Semjonowitsch Wygotski (1896 - 1934) zurück. Schon seine ersten wissenschaftlichen Publikationen widmeten sich der Entwicklung von Kindern unter den Bedingungen geistiger und körperlicher Behinderungen. In kritischer Auseinandersetzung mit den sich damals ausbreitenden Testverfahren entwickelte er später das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung. 1926 verfasste er das einflussreiche Manuskript „Die historische Bedeutung der Krise in der Psychologie“. Sein berühmtestes Werk „Denken und Sprechen“ erschien kurz nach seinem Tod. 1936 fielen Wygotskis Arbeiten in der Sowjetunion in Ungnade und es sollte Jahrzehnte dauern, bis Teile seines Werkes wieder veröffentlicht wurden.

Seine Arbeiten über die Dialektik von Denken und Sprechen hatten großen Einfluss auf die Geistes- und Sprachphilosophie, Hirnforschung, Psychologie und Pädagogik, insbesondere die rehabilitative Psychologie, Diagnostik und Pädagogik. Wygotskis (1935) Untersuchungen zeigen, dass Lernen jenseits der Zone der aktuellen Entwicklung möglich ist, wenn die Lerntätigkeit eines Kindes von entsprechenden sozialen Bezügen getragen wird. Für die Beurteilung des kindlichen Entwicklungsstandes ist deshalb auch wichtig, was ein Kind mit Unterstützung durch Erwachsene oder ältere Kinder kann.

Diese Überlegung basiert auf der Grundidee der Interiorisationstheorie. Sie besagt, dass alle geistigen Funktionen zuerst zwischen Kind und Bezugspersonen geteilte Funktionen waren. Erst später macht sich das Kind diese Funktionen zu Eigen. Aufgrund dieser Entwicklung innerer psychischer Funktionen aus ursprünglich äußeren sozialen Funktionen tritt nach Wygotski jede Funktion in der geistigen Entwicklung eines Menschen zweimal auf: zuerst sozial, dann individuell, zuerst interpsychisch, dann intrapsychisch.

Diagnostische Untersuchungen der geistigen Entwicklung bedürfen deshalb mindestens ein doppeltes Testen: Wie löst ein Kind eine Aufgabe selbständig und wie versteht es, an-gebotene Hilfen zu nutzen? Diese Idee wurde z.B. in der DDR zur Diagnostik der Lernfähigkeit aufgegriffen und im Aufnahmeverfahren für Hilfsschulen eingesetzt. Die Anwendung der Theorie erfolgte jedoch eher mechanisch, ohne Wygotskis Vorstellungen vom komplizierten Wechselspiel zwischen Affekt und Intellekt zu berücksichtigen.

Für die Pädagogik und Didaktik sollte eine Orientierung an der Zone der nächsten Entwicklung von zentraler Bedeutung sein. Denn Wygotski zufolge kann nur ein der Entwicklung vorauseilender Unterricht die geistigen Bedürfnisse Heranwachsender befriedigen.

Eine weitere Alternative zur defizitorientierten Diagnostik ist die Syndromanalyse. Diese Form der Diagnostik geht auf den Moskauer Neuropsychologen Alexander Romanowitsch Luria (1902-1977) zurück. Sie ergänzt die klassisch neurologische Syndromanalyse durch eine romantische Syndromanalyse, in der die Diagnostizierten selbst zu Wort kommen, indem sie das Syndrom aus ihrer Innensicht analysieren. Dieser Ansatz wurde von dem New Yorker Neuropsychiater Oliver Sacks (1992) aufgegriffen, gewürdigt und um viele neurologisch biographische Syndromanalysen ergänzt. Im weitesten Sinn ist jede klinische Diagnose die Zuordnung von Symptomen zu einem Syndrom. Bei der Syndromanalyse im engeren Sinne handelt es sich um eine die Differenz achtende Diagnostik, die aber auch die Gefahr einer undifferenzierten Akzeptanz erkennt. Im pädagogischen Rahmen bestimmt sie den Bildungsbedarf nicht aus bevölkerungspolitischer Sicht, sondern sich aus den Orientierungsbedürfnissen, die in der gemeinsamen Tätigkeit von Lehrenden und Lernenden entwickelt werden.

Der Bremer Professor für Allgemeine Behindertenpädagogik Wolfgang Jantzen (1996) hat Lurias Ansatz um eine sozialkritische, antipsychiatrische Dimension bereichert. Ausgehend von Franco Basaglia legt er zurecht besonderen Wert darauf, das Gewordensein eines Menschen, der unterdrückenden und ausbeutenden Institutionen unterworfen war, zu rehistorisieren. Die rehistorisierende Syndromanalyse ist die wichtigste Methode, sich von sozialtechnischen Zuschreibungen sowohl aus biologistischer als auch aus soziologistischer Perspektive zu befreien.

Um den Kreis zur Didaktik zu schließen, bedarf es meiner Ansicht nach noch einer weiteren Ergänzung, und zwar der Reflexion von Beobachterstandpunkten im Prozess des Diagnostizierens. Zu diesem Zweck wurde an der Universität Hamburg eine systemische Syndromanalyse entwickelt, die über die Vermittlung von Außen-, Innen-, Superbeobachtung und Selbstreflexivität diagnostisch begründete pädagogische Ideen entwickelt.

 

Literatur:

Desrosiéres, A.: Die Politik der großen Zahlen: Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin 2005

Jantzen, W. / Lanwer-Koppelin, W.: Diagnostik als Rehistorisierung. Methodologie und Praxis einer verstehenden Diagnostik am Beispiel schwer behinderter Menschen. Berlin 1996

Korczak, J.: Das Recht des Kindes auf Achtung. 5. Auflage. Göttingen 1994

Sacks, O.: Einführung von Oliver Sacks. In: Luria, A.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten. Reinbek bei Hamburg 1992, 7-20

Zimpel, A.: Der zählende Mensch. Was Emotionen mit Mathematik zu tun haben. Göttingen 2008

Выготский, Л.С.: Умственное развитие детей в процессе обучения. Москва 1935

 

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. habil. André Frank Zimpel

Andre.Zimpel@t-online.de

 

15. Juli 2009

 

Quellenverweis:  http://www.inklusion-lexikon.de/Diagnostik_Zimpel.php