Annedore Prengel

Heterogenität

Mit „Heterogenität“ wird das für Inklusive Pädagogik zentrale Merkmal benannt: Ausnahmslos alle Kinder aus dem jeweiligen Einzugsbereich werden in ihre wohnortnahe Kindertagesstätte und Schule aufgenommen und lernen hier in heterogen zusammengesetzten Gruppen gemeinsam.

Die Bedeutung des Begriffs Heterogenität lässt sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen; mit dem Begriff werden Verhältnisse bezeichnet, in denen verschiedenes einander nicht untergeordnet ist (Horn 2012). Im Denkbild des auf gleicher Ebene „horizontal“ angesiedelten Verschiedenen kommt eine Wertschätzung von Egalität und eine Kritik an „vertikalen“ Hierarchien zum Ausdruck. Ein solches Verständnis von Heterogenität spiegelt grundlegende menschenrechtlich-demokratische Prinzipien wider: Den Zusammenhang von Gleichheit, Freiheit und Solidarität (Bielefeldt 1998, 2006; Habermas 2010; Vereinte Nationen 2006). Gleichheit ist als Anspruch auf gleiche Rechte und nicht etwa als Angleichung aneinander zu verstehen (Pauer-Studer 2000). Freiheit beinhaltet die Möglichkeit, eigene heterogene Lebensentwürfe zu suchen - das heißt, Freiheit bedeutet Freiheit für Vielfalt. Wenn eine solche gleiche Freiheit jedem Menschen zukommt, ist sie immer zugleich die gleiche Freiheit der eigenen und der anderen Person (Honneth 2011), das heißt sie, beruht auf  intersubjektiver Solidarität und ist nicht als Freibrief für destruktive Konkurrenz misszuverstehen (Stojanov 2008).

 

Die mit dem Wertschätzen von Heterogenität als gleicher Freiheit für Vielfalt hervorgehobenen menschenrechtlich-demokratischen Prinzipien beschreiben nicht einfach gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern formulieren immer nur partiell realisierbare Ziele, die angesichts der von Hierarchien dominierten gesellschaftlichen Verhältnisse universalistisch-humanistische Orientierungen bieten. Inklusive Pädagogik kann damit als Programm beschrieben werden, in dem es nicht darum geht, sich im Besitz einer „reinen Lehre“ des Heterogenen zu wähnen, sondern immer wieder neue Ansätze, die mehr gleiche Freiheit im Bildungswesen ermöglichen, zu erproben und weiter zu entwickeln. Die Auseinandersetzung mit den in den Strukturen des Bildungswesens und in den alltäglichen Interaktionen der Lehrenden und Lernenden verankerten Hierarchien bleibt eine dauerhafte Aufgabe inklusiver Pädagogik. Inklusive Pädagogik überwindet nicht die meritokratische Leistungshierarchie, die mit der Demokratisierung dem feudal-hierarchischen Ständesystem entgegengesetzt wurde, aber sie vermag es die destruktiven Wirkungen von ständisch oder meritokratisch begründeten Hierarchisierungen während der Lebensphasen des Aufwachsens erheblich zu beschränken. Indem Maße in dem durch die Anerkennung heterogener Lernausgangslagen eine individualisierte Passung mit den Lernangeboten und eine individuelle Würdigung von Lernanstrengungen ermöglicht wird, trägt inklusive Pädagogik zur individuellen Leistungssteigerung bei. Mit dem Verzicht auf Ausrichtung an der in homogen konzipierten Lerngruppen vorherrschenden gedachten Leistungsmitte geht die Anerkennung eines breiten Leistungsspektrums einher. So können die im üblichen Bewertungssystem vorgesehenen an die langsamer bzw. anders lernenden Kinder und Jugendlichen adressierten negativen Zuschreibungen und die dadurch ausgelösten lernhinderlichen Entwertungen vermieden werden. Aber auch inklusive Pädagogik kann sich der Anerkennung der im genannten breiten Leistungsspektrum enthaltenen Dimension der Leistungshierarchie nicht vollkommen entziehen, sonst würde sie Gefahr laufen, im Zeichen ihres zentralen Wertes, der Heterogenität als gleicher Freiheit, das ihr Widerstrebende zu verdrängen. Darum ist es eine Aufgabe inklusiver Pädagogik eine Sprache zu finden, die Leistungshierarchien weder verleugnet noch affirmativ reifiziert. Inklusive Pädagogik verfügt wie keine andere Konzeption über das Potential, den im gesellschaftlichen Teilsystem Bildungswesen vorherrschenden - aus ständischen Relikten und meritokratischen Innovationen gemischten - Hierarchien ein pluralistisches Bild vom Kind entgegenzusetzen, mit der Diskriminierung der „schlechten Schüler“ aufzuhören und das angstfreie Miteinander der Verschiedenen zu kultivieren (Prengel 2011). Im Rahmen der institutionellen Inklusion bilden die intersubjektiven Beziehungen im pädagogischen Raum dafür das grundlegende Medium (s. Beitrag „Pädagogische Beziehungen“ im Inklusion Lexikon, i. Vorb.).

 

Inklusive Pädagogik hat, beeinflusst durch ihre lange Vorgeschichte, die Didaktik der heterogenen Lerngruppe entwickelt (Hinz 1993; Hinz/Walthes 2009; Warzecha 2003; Wagner 2008). Sie vermittelt einerseits die von Erwachsenen verantwortlich ausgewählten Inhalte wie z.B. die elementaren Kulturtechniken und eröffnet, andererseits Freiräume für die Themen und Interessen, die Kinder und Jugendliche an den Tag legen.  Die verbindlichen Lerngegenstände werden passend zu den heterogenen Lernausgangslagen zugänglich gemacht, so dass jeder Lernende einen individuell angemessenen Einstieg zum Beispiel in die Aneignung mathematischer oder schriftsprachlicher Kompetenzen findet. Inklusive Didaktik greift dabei auf die reformpädagogischen Ansätze der Binnendifferenzierung durch Freiarbeit und Projektarbeit zurück und benötigt eine Ausstattung der pädagogischen Räume sowohl mit systematisch ausdifferenzierten Lernmaterialien und Kompetenzrastern als auch mit Materialangeboten für kreative Eigenaktivitäten und ein Angebot an Exkursionen zu externen Lernorten (s. Beitrag „Didaktik“ im Inklusion Lexikon, i. Vorb.). Mit der inklusiven Didaktik liegen ausgearbeitete Modelle für die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen vor, die langjährig in zahlreichen Kindertagesstätten und Schulen praktiziert wurden und werden. Gleichzeitig finden sich gerade im deutschen Bildungswesen zahlreiche Personen und Institutionen, denen der Gedanke der Heterogenität und die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen fremd geblieben sind. Die große Herausforderung der Inklusiven Forschung und Pädagogik liegt darum in der Frage, wie die verbreitete Abneigung gegen Heterogenität als pädagogisches Prinzip im Bildungswesen abgebaut werden kann.

 

Literatur:

Bielefeldt, Heiner: Philosophie der Menschenrechte. Grundlage eines weltweiten Freiheitsethos. Darmstadt. 1998.

Bielefeldt, Heiner: Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin: DIMR 2006. URL: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Essay/essay_zum_innovationspotenzial_der_un_behindertenrechtskonvention_auflage3.pdf (Stand: 14.08.2012).

Habermas, Jürgen: Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), Heft 3, S. 343-357.

Hinz, Andreas: Heterogenität in der Schule. Integration. Interkulturelle Erziehung. Koedukation. Hamburg 1993.

Hinz, Renate/Walthes, Renate (Hg.): Heterogenität in der Grundschule. Den pädagogischen Alltag erfolgreich bewältigen. Weinheim/München. 2009.

Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011

Horn, Dorit: Zur Herkunft und Bedeutung der Begriffe heterogen und Heterogenität. Ergebnisse einer Recherche in Wörterbüchern und philosophischen Lexika zu einem inklusionsrelevanten Begriff. In: Annedore Prengel/Hanno Schmitt (Hg.): Netzpublikationen des Arbeitskreises Menschenrechtsbildung in der Rochow-Akademie für historische und zeitdiagnostische Forschung an der Universität Potsdam. Reckahn 2012. http://www.rochow-museum.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/rochow-museum/assets/Horn_Heterogenitaet_01.pdf (25.8.2012)

Pauer-Studer, Herlinde: Autonom Leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit. Frankfurt a. M, 2000.

Prengel, Annedore: Zwischen Heterogenität und Hierarchie in der Bildung – Studien zur Unvollendbarkeit der Demokratie. In: Ludwig, L.; Luckas, H.; Hamburger, F.; Aufenanger, S. (Hg.): Bildung in der Demokratie II. Tendenzen – Diskurse – Praktiken. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen & Farmington Hills 2011, S. 83-94.

Stojanov, Krassimir: Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung? Kritische Anmerkungen zum Gebrauch der Gerechtigkeitskategorie in der empirischen Bildungsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 54 (2008), Heft 4, S. 515-530.

Vereinte Nationen – UN: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. o.O. 2006 files.institut-fuer-menschenrechte.de/437/Behindertenrechtskonvention.pdf (20.08.2012).

Wagner, Petra: Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau 2008.

Warzecha, Birgit (Hg.): Heterogenität macht Schule. Beiträge aus sonderpädagogischer und interkultureller Perspektive. Münster 2003.

Trautmann, Mathias; Wischer, Beate: Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. Wiesbaden 2011.

 

Kontakt:

Prof’in Dr. Annedore Prengel

aprengel@uni-potsdam.de

September 2012

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Heterogenitaet_Prengel.php