Andrea Maierhofer

Strukturanthropologie

Die Strukturanthropologie kann im Bereich der philosophischen Anthropologie angesiedelt werden und geht im Wesentlichen auf ihren Hauptvertreter Heinrich Rombach zurück.

Rombach entwickelte mit seiner Strukturanthropologie eine eigene philosophische Forschungsrichtung. Heinrich Rombach wurde 1932 in Freiburg geboren und starb 2004 in Würzburg.

Für Rombach beginnt das Strukturdenken bereits in der Renaissance. Die Erfahrung der menschlichen Schöpfungskraft wurde im Sinne eines schöpferischen Gestaltens entdeckt. Vorbild dafür war das künstlerische Schaffen.

In der Strukturanthropologie wird angenommen, dass alles zu seiner Selbsterschaffung erschaffen worden ist. Der Mensch ist nicht einfach, sondern er sucht sich und zwar ein Leben lang.

Das Menschenbild der Strukturanthropologie will das Wesen des Menschen nicht festlegen, sondern sieht den Menschen als lebendige Struktur. Diese Struktur ist reich gegliedert und stellt ein Gefüge unterschiedlicher Momente dar, stets im Fluss, in Veränderung, auflösbar und vergänglich. Es kann ein Selbstaufbau und eine Selbstgestaltung des Wesens angenommen werden. Jeder Mensch wird durch diese Tatsache zum „Anderen“. Die Strukturanthropologie hält an der Vielfalt der Wesensgestaltung fest und nimmt hier auch fernöstliches Gedankengut in ihre Theorie auf, wonach der Mensch auf Selbstfindung  angelegt ist.

Struktur wird in der Strukturanthropologie verstanden als etwas, dass immer erst gesucht, gefunden und verwirklicht werden muss. Sie kennzeichnen sich durch ihre ständige Bewegung. Im Beispiel der Sozialstruktur wird deutlich, dass ihre Genese sich nur in der Beteiligung aller vollzieht. Jeder Mensch mit seiner individuellen Struktur trägt zur Lebendigkeit dieser Genese bei. Die Genese von Strukturen ist weder eine Leistung des Menschen alleine, noch der Wirklichkeit, sondern Mensch und Wirklichkeit werden darin ungeschieden gesehen und gehen aus einer Gesamtstruktur erst hervor. Diese Struktur kennt keine Normen- oder Wesensvorgaben, sondern hat ihre Entwicklung gemäß den Situationen und Umständen in welchen sie sich vollzieht und verwirklicht. Das Fehlerhafte gehört zu diesem Prozess notwendig hinzu und wird nicht als negativ bewertet. Fehlerhaftes ist nicht in einzelnen Menschen vorhanden, sondern Teil eines Gesamt, dass Natur, Mensch und Wirklichkeit einschließt. Jeder Mensch und jedes Ding werden hier als eine mögliche Artikulation dieser Gesamtstruktur verstanden. Menschsein in Normen und Kategorien festzulegen bedeutet für die Strukturanthropologie Verkleinungsarbeit am Menschen, was eine Anthropologie der Negativität bedeutet, da andere, nicht entsprechende Formen verneint werden, obwohl sie in der Wirklichkeit zum Ausdruck kommen. Eine Reduzierung von Menschsein resultiert aus der Borniertheit, die das Gegenteil von Offenheit darstellt. Offenheit bedeutet die Fülle der Offenbarung des Ganzen. In strukturanthropologischem Denken gibt es kein Dasein welches besser oder schlechter als anderes ist, sondern jedes Dasein stellt eine Form von menschlichem Sein dar.

Zu Borniertheit schreibt Rombach Folgendes:

„Borniertheit besagt, dass sich ein Mensch so in seine Grenzen eingeschlossen hat, dass er diese nicht mehr als Grenzen sieht, sondern als Schranken erfährt. Grenzen gibt es überall in der Daseinsstruktur, und sie sind in keiner Weise gefährlich, ja eher nützlich, da sie die Bedingung der Selbststrukturierung sind. Wer eine Grenze sieht, ist bereits über sie hinaus, denn nur von außen lässt sich eine Grenze als Grenze sehen und ziehen. Sich in seine Grenzen fügen, ist daher ein entscheidender Akt der Universalität und Offenheit des Menschen. Grenzen dagegen, die nicht eingesehen und nicht zugegeben werden, wirken als Schranken, über die das Dasein nicht hinauskommt, und durch die es verstümmelt und verzerrt wird. Diese Verletzungen werden jedoch nicht vom Dasein selbst erfasst, sondern in einer entschlossenen 'Projektion' nach außen geworfen und an geeigneten Menschen und Gegenständen festgemacht. Überall wo das Dasein von Negativität spricht (hässlich, schlecht, böse, gemein), handelt es sich um eine Negativität, die Anderem vorgeworfen wird. Ein durch und durch positives Denken hat eine durch und durch positive Welt [...] .“ (Rombach 1987, 222, Hervorh. im Original)

Die Strukturanthropologie geht davon aus, dass das Ganze in jedem Teil präsent ist. Mit dem Ganzen ist hier die gesamte Menschheitsgeschichte und Evolution gemeint. Die Strukturanthropologie geht hier in diesem Sinne über den Menschen hinaus, da der Mensch als Teil dieser Gesamtstruktur gesehen wird. Der Mensch muss sich in diesem Denken in geschichtlicher Weise stets eine neue Wesensverfassung oder Grundstruktur geben.

Diese Grundstruktur gestaltet sich, so Rombach:

„als Gewebe von Grundphänomenen. [...]. Zu solchen Grundphänomenen gehören: Arbeiten, Erfahren, Spielen, Kämpfen, Hoffen, Glauben, Lieben, Entscheiden, Handeln, Herrschen, Hervorbringen, Helfen, Erziehen, Heilen, usw.“ (Rombach, 1987, 133)

Grundphänomene beziehen sich immer aufeinander, verändert sich in einen Bereich etwas, so hat dies Auswirkungen auf die anderen Bereiche.

Das menschliche Dasein vollzieht sich immer in Situationen. Wir erfahren die Welt nur in Situationen. Situation bedeutet aber immer, dass es meine eigene ist, keine allgemeine. Anders kann sich der Mensch selbst nicht fassen, sich selbst nicht erreichen als durch die eigene Situation hindurch. Situation ist immer etwas, das persönlich betrifft. Dieses Betroffen-Sein geht allen Entscheidungen voraus. Auch der Leib wird in diesem Sinne als Situation verstanden. Er stellt eine Situation dar, die von der jeweiligen Person interpretiert wird. Hier wird angenommen, dass der Leib sich selbst als ein lebendiger Prozess konstituiert und nicht lediglich als biologische Gegebenheit vorhanden ist. Der Leib als Situation verstanden, überformt das vorgegebene biologische System im Sinne einer individuellen Leibgestalt. In dieser Weise entsteht der Leib als Person.

Die Situation ist ebenfalls für die Bildung von Selbstbewusstsein entscheidend. Dieses kann nur aus der Situation heraus gewonnen werden. Situation kann auch als das Innerste des Selbst verstanden werden, sie ist der Grund wovon her sich das Selbst reflektiert. Situation ist somit immer etwas Vorangegangenes. Das Selbst entsteht erst nachträglich. Dieser Prozess geschieht ständig. Emotionen spielen bei der Entwicklung von Selbstbewusstsein eine wesentliche Rolle. Fühlen bedeutet, die Welt in sich zu haben. Indem der Mensch die Offenheit zum Anderen hin akzeptiert, erfährt er sich zugleich in seinen eigenen Lebensbezügen. Fühlen ist somit immer nur in Auseinandersetzung mit der Welt möglich. Die Offenheit für das Andere ermöglicht einen erweiterten Horizont für die eigene Innenwelt und führt zu so zu Entwicklung. Der Mensch kann dadurch Andersein als Selbstsein erfahren. Diese Ansicht geht von einer rein biologischen Sicht des Menschen und darauf gründenden Fähigkeiten weg. Nicht die bloße Tatsache, dass der Mensch ein Sensorium hat, macht ihn dazu fähig wahrzunehmen, zu denken und zu fühlen, sondern seine situative Existenz ermöglicht ihm das erst. Ohne diese situative Existenz würde das Sensorium ins Leere laufen, seine Meldungen kämen nirgends an, würden sich auf nichts beziehen und deshalb nichts enthalten. 

Jede Situation ist bestimmt von einer Innen- und Außensituation, also dem was objektiv zu geschehen scheint und dem was in den Beteiligten vor sich geht. Entscheidend für die Ich-Bildung ist die Artikulation der Betroffenheit. Das Identifikationsgeschehen hängt nicht lediglich von der Außensituation ab. Es gibt einen Unterschied von Ich und Situation:

„Der Unterschied von 'Ich' und 'Situation' lässt sich strukturell zurückführen auf den Unterschied von Innensituation und Außensituation. Dieser Unterschied ist durch nichts anderes gekennzeichnet als durch Betroffenheit. Die Artikulation der Betroffenheit legt die

 

Identifikation fest, aus der sich das Ich herausdefiniert, als welches ich lebe.“

(ebda., Hervorh. im Original)

Situationen sind nur nach innen hin deutlich. Situationen können einem anderen nicht mitgeteilt, erklärt oder beschrieben werden. Sie werden ihm nur klar, wenn er sich in sie hineinversetzt. Das letzte „Mein-Sein“ einer Situation kann der andere nur mit-leben, wenn er die Situation mit-erlebt. Er kann es nicht verstehen, erkennen, sehen.

Durch die Innerlichkeit einer Situation, die unabhängig vom einzelnen Subjekt ist, deshalb auch mehreren Subjekten zugleich zugänglich, konstituiert sich ein Wir. Dieses Wir konstituiert sich aus dem Inneren der Situation und nicht aus den Einzelsubjekten heraus. Es besteht also nicht eine Relativität der Einzelnen zueinander, sondern eine Relation. Das Soziale am Menschen ist diese Relation selbst. Das Verhältnis, die Beziehung ist es, woraus ein Wir entsteht und nicht die einzelnen Menschen.

Der Lebensprozess jedes Menschen ist ein offener. Situationen, die eine zu scharfe Begrenzung erfahren, bergen die Gefahr des Ich-Verlustes in sich, da Ich-Identität gleichsam von außen kommt. Auf Bedrohung des Ich-Verlustes reagiert der Mensch mit Angst. Das Ich sucht sich sodann Halt in seinem Inneren. Dieser Vorgang kann jedoch nie zur Gänze gelingen, da das Ich von einem Außen abhängig ist. Ich- Identität und personale Selbsthaftigkeit hängen nie nur von der Person selbst ab, sondern von einer bestimmten Verfassung der Struktur im Ganzen.

Das Angesehen-Sein spielt in der Situation eine tragende Rolle. Rombach meint:

 „Das Angeblicktsein ist der Beginn des Menschseins. Ohne das Auge der Welt bliebe der Mensch blind.“ (Rombach 1987, 179)

Rombach nennt das Was, die Institution und die Rolle als Formen der Angesehenheit. Wo immer und wie immer sich Menschsein zu fassen bekommt, es fasst sich in einer Rolle, als Was, als Institution. Das reine Wer ist strukturell gedacht nur eine Idee. Das Wer kann im Hinblick auf eine innere Konstitution gedacht werden, das Was hingegen auf eine äußere Konstitution. Der Einzelne kann in dieser Theorie niemals ohne ein Außen existieren.

In der Theorie der Strukturanthropologie ist jede Situation immer ein Gesamt an Verhältnissen. Es besteht eine Identität von Ganzem und Teil, wobei der Teil immer nur ein Ausdruck des Ganzen sein kann. Die Identität von Ganzen und Teil wird auch Sinn genannt. Sinn bleibt hier immer an das Erscheinen eines Ganzen in jedem Teil gebunden, jedoch in ganz unterschiedlicher Deutlichkeit und Artikulation. Ein Einzelnes zu sehen bedeutet immer nur interpretieren. Interpretationen gibt es jedoch nur in der Mehrzahl. Gäbe es nur eine Interpretation einer Situation, so wäre dies keine Interpretation mehr, sondern der Inhalt der Situation selbst. Rombach sieht es so, dass Leben immer interpretieren ist. Das Interpretieren ist ein lebensmäßiger Prozess und geschieht immer in Situationen, nicht durch eine Meinung über eine Situation. Durchgreifender als die eigene Meinung ist immer die weitere Situation.

In der Strukturanthropologie ist die Welt das Bestimmungsmerkmal der Selbstkonstitution. Es gibt kein Ich, das von Beginn an schon vorhanden wäre. Die Welt und das Ich sind aufeinander angewiesen, bilden eine Einheit und als solche eine Struktur. Ein letztes Inneres des Menschen gibt es nicht. Alles existiert nur in Situationen. Das Dasein befindet sich so nie in ruhigem Selbstbesitz, es hat kein Selbst, sondern sucht sein Selbst immer in der Stimmigkeit der Situationen. Rombach schreibt dazu:

„Dieses Ego bin nie nur ich selbst, sondern immer schon ein ganzer Turm von Wir und Ich, zu dem auch das 'Wir' und das 'Ich' gehört. Wenn gesagt wird, dass mein Ich im Innersten 'nichts' ist, so bedeutet dies vor allem, dass es für alle Identitäten offen ist.“ (Rombach, 1987, 282, Hervorh. im Original)

Dass das Dasein im Innersten „Nichts“ ist, ermöglicht eine Offenheit, sich bis ins Innerste betreffen zu lassen. Das Innerste Nichts ist strukturanthropologisch gesehen das Herzstück jeder Identiät. Rombach schreibt dazu:

„Auch hier halten wir uns im Abendland in einer vermeintlichen Identität fest, die für uns der wichtigste Besitz ist. Würden wir uns auf das innerste Nichts freigeben, könnten wir ganz anders zu Handlungsidentitäten zusammentreten, und jeder wäre nur noch 'zufällig' der, für den er gehalten wird. Das menschliche Leben erhielte dadurch etwas außerordentlich Umgängliches, Fürsorgliches und Erleichterndes. Sicherlich würde es dadurch menschlicher.“ (Rombach 1987, 287, Hervorh. im Original)

Strukturanthropologisch gesehen ist das meiste am Individuum vorgegeben, durch Natur, Vererbung und Zufall. Nur ein kleiner Teil der Anlagen, Fähigkeiten und des Verhaltens spiegelt die persönliche Eigenheit des Trägers wider. Es handelt sich hierbei aber nicht um eine Mischung aus Vorgegebenem und Selbstgegebenem, sondern um das Verhältnis der Überformung. Ein vorgegebener Grundbestand wird durch die individuelle Gestaltungsenergie überformt. Das Individuelle am Menschen löst sich dabei nicht in vorgegebene Strukturen auf, sondern geht immer in die Überformung mit ein. Durch persönliche Überformung unterscheiden sich zwar die Einzelteile einer Gesamtstruktur, aber Unterschied entsteht immer nur im Verhältnis zueinander. Alle Teile einer Struktur haben denselben Inhalt, da sie immer Darstellungen eines Ganzen sind. Dies könnte auch mit einer Vielheit in einer Einheit umschrieben werden.

Die gängige Anthropologie verschweigt laut Rombach die Multipersonalität des Menschen. Wir leben immer in einer Mehrzahl von Personalitäten, die in uns vereint sind, die sich jedoch nicht vereinigen müssen. „Multiple Identitäten“, wie Rombach dies nennt, bieten die Möglichkeit zu anderen Lebensansätzen, die die Vielfalt des Lebens erst ausmachen.

Wenn somit von einem Identitätsgeschehen gesprochen werden kann, dann, so Rombach, ist es:

„ […] ein ganzes Identitätsgeschehen, das sehr vielgliedrig, multipersonal und kompliziert ist, so dass immer wieder neue Konstellationen verschiedener Identitätsgestalten gefunden werden müssen, die nicht immer einstimmig, sondern häufig auch widersprüchlich sind. Wir haben keinen homogenen Ichblock in uns, sondern ein vielfach gefügtes Gewebe von Ichartikulationen, die als lebendige Struktur ständig in Austausch und Verschiebung stehen, Spannungen und Brüche aufweisen, Offenheiten, Lücken und Täuschungen beinhalten und nirgendwo auf einen letzten und „harten Kern“ zurückgegründet werden können.“ (Rombach 1987, 252)

Für Rombach steht der „menschliche Mensch“ gegen den „vernünftigen Menschen“. Die Annahme einer einzigen Vernunft, die für alle gleich gelten soll, wird abgelehnt. Individuen der unterschiedlichsten Herkunft und Geistzugehörigkeit können sich in konkreter Verbundenheit einigen, da für sie Verstehens- und Lebensdifferenzen keine Konfliktursachen sind, sondern Voraussetzungen eines Hinüber- und Herübergehens in Bewegung sind. Man versteht sich vielleicht nicht, aber man versucht sich zu verständigen. Verschiedenheit soll nicht als Verschiedenheit erleidet werden, sondern als ein vielstimmiges Zusammengehören erfasst werden.

 

Literatur:

Rombach, Heinrich: Strukturanthropologie. Der menschliche Mensch. Freiburg/München (Karl Alber Verlag) 1987

 

Kontakt:

Mag. Andrea Maierhofer

Andrea.maierhofer@yahoo.de

Juni 2009

 

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Strukturanthropologie_Maierhofer.php