Hildegard Ameln-Haffke
Ästhetische Erfahrung
Ästhetische Erfahrungen werden heute in unterschiedlichen Bildungs-Zusammenhängen diskutiert und gelten u.a. als wesentliche Voraussetzungen für nachhaltiges Erschließen von Lebenswelt(en) und für lebenslanges Lernen. In der Bildungslandschaft sind die Begriffe „Ästhetische Erziehung“ und „Ästhetische Bildung“ die geläufigsten Bezeichnungen.
Ästhetische Erfahrung setzt zunächst die Möglichkeit und Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung voraus, d.h. der Wahrnehmungsfähigkeit von externen Objekten und Phänomenen via visuellem, auditivem, sensitivem, olfaktorischem und gustatorischem Sinn (einzeln oder in Kombination), und kann andererseits u.a. in künstlerischen, (bildnerischen/gestalterischen), musikalischen, dichterischen, darstellerischen und bewegungsmäßigen/tänzerischen Äußerungen Form finden und sichtbar werden: Ästhetische Erfahrungen umfassen Rezeptions- und Produktionsprozesse.
Als eine „schöne“ Erfahrung oder Genuss-Erfahrung im Sinne der Aisthesis (vgl. z.B. Bernard 2008) kann diese auf die Gefühle und Emotionen des Rezipienten und/oder Produzenten ein- und rückwirken. Bei Ergriffenheit können zudem tiefe Empfindungen zu einem Flow, einem kurzzeitigen Vergessen des Zeit-und Raumgefüges führen und zu einem Verspüren von besonderer Zufriedenheit und Glück verhelfen (vgl. Csikszentmihalyi 1985).
Ästhetische Erfahrungen sind in erster Linie Selbst-Erfahrungen: Unterschiedliche Präsentationen des Erlebens bzw. der Erlebnisse werden durch die jeweilige Tiefe der affektiv-ästhetischen Erfahrung bedingt. Diese sind abhängig von momentanen emotionalen Dispositionen und bereits erworbenen persönlichen Erfahrungs-, Verarbeitungs- und Lernmustern und offenbaren ihre subjektiv bedeutsamen Ergebnisse in spezifischen Raum-, Zeit-, Handlungs- und/oder Materialdimensionen. „Interesseloses“ sinnliches Erleben und/oder Wahrnehmen als Orientierung an der Verwertbarkeit von Dingen und Außenwelt (alltägliche Erfahrung) unterscheidet sich demzufolge von Ästhetischem Erleben und Ästhetischer Erfahrung: Das Einlassen auf die sinnliche Präsenz in der Besonderheit ihrer Erscheinung im Hier und Jetzt ist das entscheidende Kriterium; Ästhetische Erfahrung geht immer mit einer Form der besonderen Selbstreflexion einher. Über sie lässt sich zudem nur im Nachhinein kommunizieren, weiterhin entbehrt sie einer objektivierbaren Bewertung.
Empirische Forschung klärt in diesen Zusammenhängen z.B. die Bedeutung, Disposition und Wahrnehmung (auch des Unbewussten) des Rezipienten mittels psychologischer Befragungsmethoden (Fragebogen, Interview, Beobachtung) und nutzt hermeneutische Verfahren und die Methoden der Qualitativen Sozialforschung zur Prüfung der erzeugten Gestaltungen/Produkte (vgl. Mattenklott 2004).
Der Versuch einer historische Bestimmung der beiden Titelbegriffe „Ästhetik“ und „Erfahrung“ führt zu einer kaum überschaubaren Fülle von Literatur und Ansätzen u.a. aus Philosophie, Kunst, Pädagogik und Psychologie über die Jahrhunderte hinweg, ideengeschichtlich begonnen in der griechischen Antike.
Ästhetische Erfahrung mittels Kunst in Bildungszusammenhängen
Die Eingrenzung auf die Begriffe „Ästhetische Bildung“ bzw. „Ästhetische Erziehung“ (vgl. Aissen-Crewett 2000) findet in Anlehnung an Richter (vgl. 2003) eine erste Erwähnung bereits im 17. Jahrhundert bei August Hermann Francke (1663 -1727), als Wissenschaftler befasste sich der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 – 1762) erstmals intensiv mit dem Erkenntnisvermögen der Sinne im Zusammenhang mit dem Begriff der Ästhetik. Friedrich von Schiller (1759 - 1805) setzte sich in 27 Briefen mit der „Ästhetischen Erziehung des Menschen“ auseinander und kritisierte darin u.a. Kants Ästhetik-Begriff und das Zwangsdiktat des Vernunftgedankens des Zeitalters der Aufklärung.
Nach unterschiedlichen pädagogischen Positionen seitdem ist für die gegenwärtige Betrachtung der Ansatz des Kunstdidaktikers Gunter Otto (1927 – 1999) immer noch aktuell: Das auratische Verständnis von Kunst wich einer betont politisierten kritischen Betrachtung von Wirklichkeit. 1974 erschien Ottos programmatisches Werk „Didaktik der ästhetischen Erziehung“. Eine Ausdehnung des Unterrichts auf alles Wahrnehmbare wurde empfohlen, sowie die Erweiterung um ein besonderes Mitspracherecht der Schüler bei gleichzeitiger Reduzierung des vorrangingen Vermittlungsanspruchs des Lehrers. Neben der umfassenden Lehrbarkeit von Kunst stellte Otto heraus, dass die Deutung der eigenen Werke und Gestaltungen durch eigene Erfahrungen und ein eigenes Bildverständnis legitim sei, dass aber auch die Betrachtung und Deutung der Werke anderer zum Erfahrungshorizont gehören müsse.
Mit dem Gedanken der „Ästhetischen Forschung“ empfahl Kämpf-Jansen (2002) einen darüber hinaus reichenden, offeneren didaktischen Ansatz, der das individuelle Erleben und Forschen mittels Alltagsästhetik noch intensiver in das Zentrum des Interesses rückte.
Wesentlich im Sinne von Vorläufern für den gegenwärtig diskutierten Inklusionsgedanken im Zusammenhang der Ästhetischen Erfahrung mittels Kunst sind die in und für heilpädagogische Zusammenhänge entwickelten Ansätze von Richter zum „Therapeutischen Kunstunterricht“ (1977) bzw. der „Pädagogischen Kunsttherapie“ (1984) bei denen es um die theoretische Verortung und den Praxisbezug der therapeutischen Funktionen Ästhetischer Erziehung ging. Aissen-Crewett (1987) legte z.B. eine Methodensammlung für eine „Ästhetische Erziehung für Behinderte“ vor, die Fördermöglichkeiten mittels Kunst empfahl. Das wesentliche Moment ist die Feststellung, dass gerade die künstlerisch-ästhetische Erfahrung und der künstlerische Ausdruck ohne zusätzliche Sprache auskommen und auch nonverbal zur Kommunikation beitragen können.
Gegenwärtig interessieren sich Forscher auch im Bereich des außerschulischen Bildungsverhaltens – häufig bezugnehmend auf John Dewey (1859 – 1952: „Kunst als Erfahrung“) - für unterschiedliche ästhetische Ausdrucksprozesse des Menschen, welche zum besseren Verständnis von Aneignung von Lebenswelt verhelfen sollen (für Kinder: vgl. Neuß 1999; Duncker et al. 2010). Es geht u.a. um Formen des ästhetischen Denkens und symbolischer Verarbeitungsprozesse, um Definitionen von Genuss und Phantasie, um mediatisierte Lebenswelten, um Spiel und Sammeln und um Dialoge mit künstlerischen Inhalten.
Kontakt:
Dr. Hildegard Ameln-Haffke
hildegard.ameln-haffke@uni-koeln.de
April 2010
Literatur/ Links
Aissen-Crewett, M. (1989). Ästhetische Erziehung für Behinderte. Dortmund: verlag modernes lernen.
Aissen-Crewett, M. (2000). Ästhetisch-aisthetische Erziehung. Zur Grundlegung einer Pädagogik der Künste und der Sinne. Potsdam: Universität.
Bernhard, P. (2008). Aisthesis. In E. Liebau & J. Zirfas, J. (Hrsg.), Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung. Bielefeld: transcript.
Csikszentmihalyi, M. (1985). Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile. Im Tun aufgehen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Dewey, J. (1980). Kunst als Erfahrung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Duncker, L. et al. (2010). Bildung in der Kindheit. Das Handbuch zum Lernen in Kindergarten und Grundschule. Seelze: Kallmeyer in Verbindung mit Klett, Friedrich Verlag GmbH.
Kämpf-Jansen, H. (2002). Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon.
Mattenklott, G. (2004). Ästhetische Erfahrungen in Kindheitserinnerungen. In G. Mattenklott & C. Rora (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung. Weinheim, München: Juventa.
Neuß, N. (Hrsg.). (1999). Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Frankfurt/M.: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Abteilung Verlag.
Richter, H.-G. (Hrsg.). (1977). Therapeutischer Kunstunterricht. Düsseldorf: Schwann.
Richter, H.-G. (1984). Pädagogische Kunsttherapie. Grundlegung, Didaktik, Anregungen. Düsseldorf: Schwann.
Richter, H.-G. (2003). Eine Geschichte der Ästhetischen Erziehung. Niebüll: videel.
Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/AesthetischeErfahrung_Ameln-Haffke.php